Archiv für den Monat: Juni 2013

Prof. Paul-Stefan Roß: Eine weitere Entwicklungsstufe von Demokratie

„Bürgerbeteiligung“ ist derzeit in aller Munde – nicht nur in Baden-Württemberg. Die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 und der Regierungswechsel 2011 haben dem Thema Konjunktur verschafft. Eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem Hintergrund dieser Debatte liefert Paul-Stefan Roß mit seinem Buch „Demokratie weiter denken“.Paul Stefan Ross NAH

Dr. Paul-Stefan Ross, Sie sind Professor an der Dualen Hochschule für Soziale Arbeit in Stuttgart  und  haben ihr letzte Veröffentlichung „Demokratie weiter denken“ genannt. In welche Richtung sollte sich Ihrer Meinung nach Demokratie weiter denken und entwickeln? Was steckt alles hinter dem Titel Ihres Buches?

Wenn in den vergangenen Jahren in Deutschland von „Demokratie“ gesprochen wurde, dann dachten die meisten dabei an regelmäßige Wahlen, für die Parteien KandidatInnen aufstellen, die dann als RepräsentantInnen des Volkes in ein (Kommunal-, Landes-, Bundes- oder Europa-) Parlament gewählt werden und dort in Abstimmungen Mehrheitsentscheidungen treffen. Dieser „repräsentative, parteiendominierte Parlamentarismus“ (so ein Fachausdruck aus der Politikwissenschaft) hat die westlichen Staaten über Jahrzehnte geprägt. Jedoch kommt das Modell sichtbar an Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und seiner Überzeugungskraft: Immer weniger Menschen gehen zu Wahlen, immer mehr fühlen sich durch die gewählten RepräsentantInnen nicht mehr repräsentiert, viele sprechen genervt von „Parteienklüngel“ und wenden sich ab.

Was bedeutet in diesem Zusammenhang genau „weiterentwickeln“?

Es deutet vieles darauf hin, dass die geschichtliche Entwicklung der Demokratie mit dem Modell der repräsentativen Parteiendemokratie keineswegs am Ende ihrer Möglichkeiten angekommen ist. Die Gründung einer Initiative für die Gestaltung eines Spielplatzes, die Entwicklung kommunaler Standards für Bürgerbeteiligung, die Entwicklung eines Modells der Beteiligung von Kindern und Jugendlichen in einer Kommune und die Auseinandersetzungen um Stuttgart 21 (um nur einige Beispiele zu nennen) haben etwas gemeinsam: Sie lassen sich interpretieren als das Ringen um eine weitere Entwicklungsstufe von Demokratie.

Wie wird oder soll Demokratie sich weiterentwickeln?

Die Bedeutung direkter Demokratie wird zunehmen; also die Bedeutung von Abstimmungen, in denen die BürgerInnen selbst direkt – und nicht auf dem Umweg über gewählte RepräsentantInnen – über bestimmte Sachfragen entscheiden. Der große Vorteil: Hier liegt die Entscheidungsmacht tatsächlich bei den BürgerInnen selbst. Sie können ein Gegengewicht bilden gegenüber den gewählten MandatsträgerInnen und verhindern, dass diese sich zu weit vom „Volk“ entfernen. Allerdings, und dies sind Nachteile, müssen bei Bürgerentscheiden die Fragestellungen oft sehr stark zugespitzt werden („Ja/Nein“), und nicht selten kommt es zu einer Polarisierung innerhalb der Bürgerschaft. Daher ist ein höherer Stellenwert direkt-demokratischer Verfahren nicht die einzige sinnvolle Weiterentwicklung von Demokratie: Zugleich wird die Bedeutung „kooperativer Demokratie“ zunehmen.

Was bedeutet kooperative Demokratie?

Gemeint sind Formen der Meinungs- und Willensbildung, die darauf setzen, das verschiedene Beteiligte in einem direkten Dialog auf Augenhöhe gemeinsam Lösungen für bestimmte Fragestellungen entwickeln. Dahinter steht die Überzeugung, dass tragfähige Lösungen ehr gefunden werden, wenn ein Konsens bzw. ein Kompromiss erzielt wird, als wenn sich eine Position durch Mehrheitsabstimmung gegenüber einer anderen durchsetzt. Solche kooperativ-demokratischen Beteiligungsverfahren gibt es in einer großen Vielzahl: Runde Tische, Zukunftswerkstätten, Planing for Real, Open-Space-Konferenzen, Planungszellen, Bürger-Räte usw. sind nur einige Beispiele. Jedes dieser Methodenkonzepte hat bestimmte Stärken, aber auch charakteristische Schwächen. Insgesamt liegen die Nachteile kooperativ-demokratischer Verfahren darin, dass an ihnen nur ein kleiner Ausschnitt der Bürgerschaft teilnimmt, und zwar in der Regel Menschen, die gesellschaftlich gut integriert sind.

Wie wird die Demokratie der Zukunft aussehen?

Demokratie wird also bunter und vielfältiger werden, wird noch andere, stärker verhandlungsorientiert ausgerichtete Formen kennen, als allein Wahlen und Abstimmungen. Einen Fortschritt kann man sich von dieser Erweiterung dann versprechen, wenn die gerade angesprochenen verschiedenen Formen demokratischer Teilhabe nicht gegeneinander ausgespielt, sondern mit einander verknüpft werden. So bleibt es z.B. der entscheidende Vorzug repräsentativ-demokratischer Verfahren, dass sie grundsätzlich allen Stimmberechtigten offen stehen und so die Breite der unterschiedlichen Meinungen in einer Gesellschaft abbilden können. Die Aufgabe auf der „Baustelle Demokratie“ lautet, repräsentativ-, direkt- und kooperativ-demokratische Verfahren so zu kombinieren, dass die die jeweiligen Schwächen wechselseitig ausgeglichen werden und die Stärken optimal zum Tragen kommen. Es bleibt also spannend!

Das Interview führte Udo Wenzl

Mehr dazu ist im Buch von Paul-Stefan roß zu finden, veröffentlicht im NOMOS – Verlag, 2012, 632 S., Broschiert, ISBN 978-3-8329-6470-2, 49.– €

Wider die Pseudobeteiligung

Die Chance zur Beteiligung bedeutet nicht zwangsläufig, dass Jugendliche sich auch in Scharen beteiligen. Jugendbeteiligung ist alles andere als ein Selbstläufer. Das liegt nicht an fehlendem Interesse von Jugendlichen, sondern an einer kulturellen Entfremdung der Politik von der Gesellschaft. 

Erik Flügge

Erik Flügge

Jugendlichen die Chance zum Mitmachen einzuräumen ist das Anliegen vieler politischer Akteure. Ein redliches Bemühen, das oft nicht von Erfolg gekrönt ist. Da werden Flyer gedruckt und verteilt, Jugendforen organisiert oder Jugendgemeinderatswahlen ausgeschrieben und keiner kommt, keiner nimmt teil, niemand kandidiert. Ein Ausweis dafür, dass die Formen der Beteiligung dringend ein Update brauchen.

Jugendliche sind nicht desinteressiert an der Gestaltung ihres Lebensumfeldes. Sie haben nur gelernt, dass sie oft beteiligt werden und am Ende selten etwas passiert. Viel zu häufig werden sie zu pseudodemokratischen Mitmachveranstaltungen eingeladen. Viel zu häufig sind Jugendliche nur Dekoration, denn anerkannte Gesprächspartner. Oder wie anders könnte man die meisten Schülervertretungen beschreiben? Wahlen von Klassensprechern, die nichts entscheiden können, zu Schülerversammlungen, die wenig Einfluss auf das Schulgeschehen haben. Wie anders ließen sich Dialoge mit Landtags- oder Bundestagskandidaten beschreiben, bei denen „viel mitgenommen wird“ und „viel wichtiges gesagt wurde“, aber kein substantieller Beitrag entsteht.

Von Jugendlichen wird zu viel erwartet. Sie sollen benennen, wie sie gern beteiligt werden wollen. Sie sollen in halbtägigen Veranstaltungen Probleme lösen, für die andere nur Jahre brauchen und diese dann Verantwortlichen präsentieren. Diese loben zwar das Engagement, wissen aber auch, dass all dies so einfach nicht zu lösen ist. Warum laden wir dann Jugendliche ein, nur einen Tag zu diskutieren und zu überlegen?

Wenn Jugendliche ernsthaft an Politik partizipieren sollen, dann brauchen sie mehr als einzelne Veranstaltungen und Foren. Sie brauchen kontinuierliche Begleitung. Denn genauso unverständlich wie die Jugendsprache für Erwachsene, ist Verwaltungssprache für Jugendliche. Politik ist an sich fremd, unnahbar und in ihren Formalismen wenig reizvoll. Denn Formalismen und Verwaltungssprache stellen Hierarchien her. Die Sätze „das ist so nicht finanzierbar“ oder „eine schöne Idee, aber das ist aufgrund der Kommunalverfassung so nicht möglich“ entwerten einen schlauen Gedanken. Es sind Totschlagargumente, denen Jugendliche nichts entgegen setzen können.

Dabei geht es auch ganz anders. Beispielsweise in Offenbach an der Queich. Dort wünschten Jugendliche ein Kino. Selbstverständlich war dieses nicht bezahlbar, aber nun wird es eines geben. Denn nicht das schnelle Nein, sondern die Suche nach intelligenten Lösungen brachte die Stadt weiter. Filme können nun legal öffentlich durch die Kommune gezeigt werden. Nötig war nicht mehr, als eine ausführliche Recherche zu Film- und Vorführungsrechten. Damit gewinnt die Stadt an Lebensqualität hinzu.

Es bleibt ein frommer Wunsch, dass die Möglichkeit, dass Jugendliche Ernsthaftes zum Gemeinwesen beizutragen haben, in der Breite ernst genommen wird. Nicht weil Mandats- und Entscheidungsträger nicht den Wunsch hätten zu beteiligen, sondern weil sie nicht verstehen können, dass es Menschen gibt, die das, was sie den ganzen Tag selbst tun, für unglaublich ineffizient, unsinnig und unattraktiv halten.

Jugendliche wollen gestalten und sie können es auch. Sie können detailliert Probleme erarbeiten und Lösungen finden. Sie brauchen dafür genauso lange Zeit, wie die Erwachsenenwelt auch. Sie brauchen aber nicht nur Zeit, sondern auch die Ressourcen dies auf jugendgerechtem Wege zu tun.